Chaos und Utopia /// Töchter der Kunst /// Theater Drachengasse /// 13,13+ /// Timon Mikocki
Pure Vernunft darf niemals siegen! Was Tocotronic gemünzt haben, war bei Lewis Carroll genial angelegt und wird bei den “Töchtern der Kunst” gehörig gegen den Strich gebürstet. Stephan Lack hat gemeinsam mit ihnen eine Adaption von Alice herausgearbeitet. Sie kommt anarchisch-fetzig und mit Zirkuselementen daher. Dass die kleine Bühne der Drachengasse so viel hergibt, ist der Vielseitigkeit der DarstellerInnen und der DIY-Ästhetik zu verdanken. Inhaltlich anspruchsvoll will die Neuschreibung auch unsere Normen infrage stellen und fährt dabei mit großem Spieltrieb auf Augenhöhe des Publikums auf. Das fängt bei der genus-sensiblen Sprache an – “ein Alice”, “was entlaubt sie sich?”, “die Unentdeckerin”, “Rausländer”. Geht auch in die Handlung hinein – Alice spielt gar nicht mit, die Hauptfigur ist der Märzhase, präsenter auf der Bühne aber andere BewohnerInnen des Wunderlands.
Der Hase verlässt die Heimat durch ein magisches Spiegel-Portal auf der Suche nach Sinn und merkt, dass unsere vermeintliche Ordnung oft auf Kosten der Menschlichkeit geht – zum Beispiel in der kafkaesken Szene beim Meldeamt. Ein rot-schwarzes Feuerwerk an Darstellungsideen begleitet die Handlung. Projektionen lassen die Königin und auch reale Politiker-Chauvis aus dem Off auftreten, es gibt Trash-TV-Szenen, eine Tonne, etliche Hüte, Keulen, Hoop-Reifen und andere Jonglage sowie waghalsige Aerial-Silk-Elemente. Eigentlich ein Wahnsinn, was alles möglich ist, wenn engagierte Leute Theater können. Der hervorragende und überbordende Text setzt auf Codes und Sprecharten, imitiert und verdreht, und spült dabei im Gewand der altbekannten Story Parallelen zum Präsens an die Oberfläche. Auch die Inszenierung ist zumindest überwältigend kreativ und aufwändig und strotzt nur so vor choreografischen Highlights. Im Kern wird hier wohl gezeigt, was mit den “Anderen” gesellschaftlich geschieht, wie unsere Politik damit umgeht, generell: Was unsere Zeit ausmacht. Wie Faschismus, Digitalisierung, Soziales, Selbstachtung und Emanzipation kreativ aufeinanderprallen; und wie absurd bürokratisch alles erscheinen mag, nachdem es einmal erschreckend unmenschlich war. Oder wie die Welt im Kopfstand aussieht. Nach der Vorstellung hat man kein moralisches oder persönliches Substrat, sehr wohl aber ein künstlerisches erhalten; die vordergründige Ebene der Darstellung bleibt tiefer sitzen, als die gewollte politische Aussage. Das verdeutlicht auch die Frage einer Schülerin in der Diskussion am Ende: “Worum geht´s?”
Text: Stephan Lack und Töchter der Kunst; Regie: Nico Wind; Mit: Iris Maria Stromberger, Nina Dafert, Tanja Peinsipp, André Reitter; Assistenz, Grafik, Fotos: Yasmine Steyrleithner; Choreografie: Ariane Oechsner; Ausstattung: Philomena Strack; Musik: Steffi Neuhuber
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