Frühlingserwachen
nach Frank Wedekind von Thomas Birkmeir | Theater der Jugend/Renaissance Theater | 13+ | Lisa Müller
Moritz träumt von der Antarktis und den Polarlichtern. Aber sein Leben sieht anders aus. Stattdessen treffen jugendliche Ängste auf den Zwang zur Selbstoptimierung und den Anspruch auf Softskills und Lösungskompetenz. Dazu kommen der ständige Leistungsdruck und das Gefühl zu versagen. Der Erwartungshaltung seiner Eltern, die ihn wie eine Investition betrachten, kann er ohnehin nicht entsprechen. Moritz hat es satt. In ihm formt sich ein zerstörerischer Gedanke, der immer mehr und mehr Gestalt annimmt und in der Katastrophe enden wird. Währenddessen fühlen sich sein bester Freund Melchior und die genauso aufbrausende wie idealistische Wendla zu einander hingezogen. Zu rebellischen Klängen der „Red Hot Chilli Peppers“ begleiten wir die Freundesgruppe durch ihren Alltag und merken bald, dass das Klischee vom unbeschwerten Teenagerleben vor allem eines bleibt: ein Klischee. Sie sind gefangen zwischen einem Übermaß an Wahlmöglichkeiten und Wohlstandsverwahrlosung. So versuchen die Jugendlichen, wie so viele Generationen vor ihnen, herauszufinden, wer sie wirklich sind.
Thomas Birkmeiers Neuinszenierung gelingt es, den mehr als 130 Jahre alten Stoff ins Gewand des 21. Jahrhunderts zu kleiden und die Mentalität der Generation Z authentisch einzufangen. Der sarkastische, fast schon zynische Humor mit einem Hauch von Nihilismus und viel Dramatik wirkt aus dem Leben gegriffen- es werden Sprüche geklopft, wie man sie auch von Jugendlichen hören könnte. Das komödiantische Timing ist auf dem Punkt und trägt das Stück durch die tiefgründige und teilweise erschütternde Handlung. In spritzigen, intelligenten Dialogen decken die jugendlichen Protagonisten soziale Missstände auf und treffen dabei den Nagel auf den Kopf, ohne dabei belehrend zu wirken. Das funktioniert gut, weil die Figuren nicht in eine klare gut-böse Dichotomie unterteilt werden. So sind die beiden herrlich gemeinen Kotzbrocken Otto (Jakob Pinter) und Robert (Haris Ademovic) nicht nur richtig widerlich, sondern leider auch recht unterhaltsam. Doch hinter der Fassade von übersteigerter Männlichkeit und Macho-Gehabe verstecken sich wie immer zwei verletzliche Personen. Dabei überrascht besonders Otto positiv mit seinem einfühlsamen und freigeistigem Alter Ego Ilse, zu der er sich schließlich auch offen bekennt. Aber obwohl Pinters schauspielerische Leistung sehr gut ist, nimmt sich das Stück leider nicht genügend Zeit, um die Figur der Ilse ausreichend zu entwickeln. Dem Weg zur offen gelebten Selbstakzeptanz wird nicht ausreichend Raum gegeben. Daher wirkt die Entscheidung, künftig als Ilse aufzutreten, überhastet. Dies ist vermutlich auch dem Zeitsprung von drei Monaten geschuldet, wäre aber für das Publikum und vor allem für die Funktion des Charakters essentiell. Das Thema Hijab dagegen wird sehr ausgereift angesprochen: In einem unter die Haut gehendem Monolog räumt Daria (Shirina Granmayeh) mit Klischees auf und hält sowohl ihrer oberflächlichen Freundin Thea (Clauda Waldherr) als auch dem Publikum gekonnt den Spiegel vor. Victoria Hauer, Curdin Caviezel und Ludwig Wendelin Weißenberger brillieren als Wendla, Melchior und Moritz. Insbesondere Weißenberger spielt den sensiblen Moritz mit unglaublich viel Charme und Witz und wird somit zum heimlichen Star des Stücks: sein pointierter Humor trifft absolut den Nerv des Publikums, man gewinnt ihn fast schon lieb. Umso schockierender ist es, als er sich dazu entschließt, sich das Leben während eines Live-Streams zu nehmen, um den Druck von Eltern und Schule entfliehen zu können. „Dann muss ich es tun. Wenn ich es nicht tue, dann mache ich mich lächerlich. Dann lacht ihr mich aus.“ spricht er in die Kamera, das Video wird an die Wand projiziert. Gerade als er es tun will, trifft er auf Ilse. Sie weiht ihn in ihr Geheimnis ein und gibt ihm die Worte „vergiss nicht zu leben“ mit auf den Weg, bevor sie wieder geht. Kurz glaubt man, Moritz würde durch Ilses Worte abgehalten werden, würde erkennen, dass es noch einen anderen Weg gibt. Aber nein. Ein Schrei tiefer Verzweiflung und Wut. Dann drückt er zum Entsetzen aller ab.
Fazit: Frühlingserwachen besticht durch die hervorragend gelungene kritische Diskussion, ebenso mit ausgezeichneten schauspielerischen Leistungen und herrlich witzigem Dialog. Die Handlung ist und bleibt seit 1891 leider nach wie vor zeitlos. Ein absolutes Muss!
Regisseur: Thomas Birkmeir Bühnenbild: Andreas Lungenschmid Kostümbild: Irmgard Kersting Licht: Lukas Kaltenbäck Dramaturgie: Gerald Maria Bauer Assistenz und Inspizienz: Viktoria Klampfl Hospitanz: Natalie Ogris Es spielen: Victoria Hauer, Simone Kabst, Ludwig Wendelin Weißenberger, Curdin Caviezel, Shirina Granmayeh, Clauda Waldherr, Robin Jentys, Jakob Pinter, Haris Ademovic