Über Nacht

Burgtheater:Vestibül | Lucien Haug | 14+ | von Lisa Müller

„Lebe deine Dreams“ – dann kannst du alles werden, was du willst! Sam (Mara Romei) hat genug von kitschigen Sprüchen. In Lucien Haugs „Über Nacht“ sorgt die hochbegabte Schülerin erstmal für einen Realitätscheck. Von den Erwachsenen in ihrem Leben im Stich gelassen, ist sie gezwungen mit beiden Beinen fest im Leben zu stehen. Sie kann es sich schlichtweg nicht leisten von einem teuren Studium zu träumen. Zum Entsetzen ihres Umfelds will sie lieber eine Lehre machen. Obendrein hat sie ihr Zeugnis schlechter gefälscht und muss zur Strafe die Überreste der Abschlussfeier wegräumen. Vor dem Glitzervorhang in der Schul-Aula werden ihre Entscheidung von ihren Freunden und ihrer Familie in Frage gestellt. Anfangs noch ausweichend, schreit sie endlich ihren Frust hinaus. Von wegen Chancengleichheit, von wegen „Lebe deine Dreams“. Verschiedene Lebensrealitäten prallen aufeinander und werden in immer tiefer dringenden Dialogen diskutiert. Durch die Gespräche löst sich langsam die Abwehrhaltung und hinter der erwachsenen Fassade Sams wird eine junge Frau mit Wünschen und Sehnsüchten sichtbar. Gleichzeitig werden die Begegnungen immer bizarrer und die Grenze zwischen Traumwelt und Wirklichkeit verschwindet. Was ist echt und was spielt sich nur in ihrem Unterbewusstsein ab? Diese Frage bleibt bis zum Schluss unbeantwortet. „Über Nacht“ bespricht mithilfe der vielschichtigen Hauptfigur Sam übersehene Thematiken des Heranwachsens. Denn Klassismus spielt in den Lebensentscheidungen aller Menschen eine Rolle. Nur wird das mit werbetauglichen Floskeln wie „Lebe deine Dreams“ gerne überspielt. Das Stück verzichtet auf Belehrungen und selbstherrliche Lösungen. Stattdessen schließt es mit der befreienden Erkenntnis, dass Sam trotz allem nicht alleine ist und ohne Angst wählen darf. Diesem langersehnten Schlüsselmoment am Ende des Stückes hätte man ruhig etwas mehr Raum geben dürfen. Mara Romei ausgereiftes und komödiantisch-pointiertes Spiel verleiht „Über Nacht“ trotz aller Tiefgründigkeit eine gewisse Leichtigkeit. Coco Brell und Simon Schofeld in schlüpfen in verschiedene Rollen und hauchen jeder Figur nuanciert Individualität ein. Dabei spielen die beiden Schauspieler so natürlich, dass man ihnen auch abnimmt gegengeschlechtliche Charaktere zu verkörpern.  Nicht zuletzt werden die Rollenwechsel auch von den schnell veränderbaren Kostümen getragen.  Auch Sams Wandlung wird von ihrem sich immer weiter aufbauenden Kostüm unterstrichen. Anfangs noch in einem viel zu langen pinken Basketball-Jersey, streift sie sich mit jedem Schritt, den sie sich traut zu gehen, ein neues Kleidungsstück über. Letztendlich steht sie in einem zusammengewürfelten Aufzug aus pinken Jersey, lila Trainingsjacke und bauschigem, grünen Tüllrock dar. Das Ganze wirkt zwar etwas schräg, hat aber auch etwas sehr kindlich-verträumtes. Falls eine Verflechtung der inneren Entwicklung mit der äußerlichen gewollt war, sollte dies doch noch etwas gezielter herausgearbeitet werden. Es stellt sich zudem die Frage, ob es notwendig ist, Texte durch gezwungene Anglizismen für ein junges Publikum attraktiver zu machen. „Lebe deine Träume!“ hätte durchaus gereicht. Über Nacht ist ein gelungenes Stück, das zum Nachdenken und Mitlachen einlädt und in dieser Inszenierung vor allem durch die aufstrebenden Darsteller:innen brilliert.

Darsteller:innen: COCO BRELL, MARA ROMEI, SIMON SCHOFELD | Regie: RACHEL MÜLLER | Bühne: LARA SCHERPINSKI | Kostüme: MARIA-LENA POINDL | Musik: BERNHARD EDER | Licht: ENRICO ZYCH | Dramaturgie: JEROEN VERSTEELE

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