Schneewittchen
Die Wiener Taschenoper | nach Engelbert Humperdinck von Wolfgang Mitterer | Dschungel Wien | 6+ | Lisa Müller
„Schneewittchen“ vereint die traditionelle Erzählweise der Gebrüder Grimm mit modernen Klangwelten. Das unvollendete Werk des Opernkomponisten Engelbert Humperdinck soll darin ins 21. Jahrhundert überführt werden. Die Musik basiert auf den volksnahen Weisen seiner Märchenopern Hänsel &Gretel, Dornröschen und Königskinder, die mit den abstrakten Elektroklängen von Wolfgang Mitterer kontrastieren. In kleiner Besetzung mit Schlagwerk, Keyboard und Kontrabass wird die spätromantische Klanggewalt auf linear musizierte Motive heruntergebrochen. Mitterers musikalische Erweiterung erzeugt vor allem die Grundstimmung, auf die Humperdincks Melodien aufgebaut werden können. Musikalische Komplexität darf man nicht erwarten, aber das ist auch nicht das Ziel der Inszenierung. Viel mehr wird der Versuch einer niederschwelligen Einführung in die Welt der Oper gewagt. Mezzosopran Natalia Kawalek (böse Königin) hebt das Stück durch treffsichere Stimmgewalt und dramatisches Auftreten auf anspruchsvolles Niveau. Dabei verkörpert sie die mörderische Stiefmutter mit einem gewissen Augenzwinkern und macht sie zu einer gelungenen Antagonistin. Sopran Adèle Clermont bezaubert mit einer feinfühligen Interpretation von Hauptfigur Schneewittchen. Insbesondere dem enthusiastischen Kinderchor gebührt ein großes Lob. Erzählerisch bleibt das Märchen in der traditionellen Grimm’schen Erzählweise verhaftet. Ein kritisches Hinterfragen wird zwar in Ansätzen gewagt, aber leider nicht zu Ende gebracht. So wird der Stereotyp des Prinzen (Clemes Kölbl) als strahlender Held nur augenscheinlich in Frage gestellt. In weißem Superheldenanzug und mit viel Glitzer im Haar betritt die Disney-Prinz Karikatur siegessicher die Bühne. Den Prinzen als Comic-Relief zu zeichnen funktioniert gut und wirkt urkomisch, aber eine wirkliche Auseinandersetzung mit Klischees ist damit trotzdem noch nicht gelungen. Nach dem geglückten Heimlich-Manöver hält der Märchenprinz um Schneewittchens Hand an. Diese scheint mit der plötzlichen Liebeserklärung etwas überfordert, eine wirkliche Aufklärung wird aber nicht bemüht. Dabei müsste gar nicht auf das traditionelle Happy End verzichtet werden – der Entwicklung müsste einfach nur mehr Raum gegeben werden. Schneewittchen und der Prinz könnten sich ja zuerst mal auf einen Kaffee treffen. Eine Neuinszenierung bietet auch die Möglichkeit verstaubte Ausdrucksweisen zu „entstolpern“. Dabei muss nicht ein vollkommen neues Vokabular bedient werden, aber gewisse Begriffe können und sollen durchaus entschärft werden. So sollte man in Bezug auf Schneewittchen – die ja eigentlich eine junge Frau ist – auf Ausdrücke wie „das schöne Kind“ verzichten. Ausgezeichnet gelungen ist das moderne Bühnenbild, das sich mit Mitterers Klangwelt ergänzt. Dabei wird ein Fokus auf die Multifunktionalität der Requisiten gelegt. So kann die verschiebbare Spiegelwand in einzelne Kompartimente zerlegt werden, die mittels wechselnder Beleuchtung atmosphärische und szenische Wechsel vollziehen. In Gegensatz dazu stehen die ebenfalls verschiebbaren und im Stil einer Puppenküche bemalten Holzkisten, die als Zwergenhäuschen funktionieren. Durch den niedlichen Stil verleihen sie dem Bühnenbild etwas vertraut-märchenhaftes. „Schneewittchen“ gelingt es Humperdincks romantische Werke in modernes Gewand zu kleiden und einem jungen Publikum in einfacher Weise zugänglich zu machen.
MUSIK: WOLFGANG MITTERER, NACH ENGELBERT HUMPERDINCK | TEXT: GERHARD DIENSTBIER NACH ADELHEID WETTE | REGIE: JEVGENIJ SITOCHIN | BÜHNE: HARALD THOR | KOSTÜME: ISIS FLATZ | LICHT: JÜRGEN ERNTL | DARSTELLER:INNEN: BÖSE KÖNIGIN – NATALIA KAWALEK, EMMA –THERESA DLOUHY, RUPERT/KÖNIGSSOHN-CLEMENS KÖLBL, SCHNEEWITTCHEN – ADÈLE CLERMONT, ZWERGE/WALDGEISTER – SCHULCHOR DES CAMPUS MONTE LAA