/// Theater Ansicht /// Dschungel Wien unter der Schirmherrschaft der UNESCO /// 9+ /// Timon Mikocki
In ländlichen Regionen von Afghanistan ist es offenbar gängige Praxis, Mädchen als Buben zu erziehen, damit sie die Freiheiten, die in der patriarchalen Gesellschaft den männlichen Herawachsenden vorbehalten sind, ausschöpfen können. Ein Detail in der Kenntnis östlicher Kultur, das man hierzulande bisher kaum wahrgenommen hat. Auf der negativen Seite geht es dabei um Ehrerhaltung: Die Familie kann sich so brüsten, einen Sohn zu haben. Und das Kind muss unter einer Tarnkappe leben. Diesen Zustand nimmt Flo Staffelmayr zum Ausgangspunkt für eine Fluchtgeschichte: Samira wächst als Samir auf und unternimmt nach traumatischen Erlebnissen allein zwei Fluchtversuche, während denen das vorher gelernte unsichtbar-Bleiben doppelt notwendig ist. Die existenzielle Härte dieses Lebenslaufes wird zwar altersgemäß abgefeilt, das Stück macht dennoch betroffen. Im Theaterraum erzählt Alev Irmak im Vergangenheitspräsens die Geschichte in Kapiteln. Es geht gleichermaßen um die individuelle Fluchtgeschichte und um die Genderproblematik – Ein Zusammenschluss, der ohne die Verankerung in der afghanischen Realität wohl überzogen wäre, der so für Europäer aber einen Identifikationspunkt hinzufügt. Die Bühne ist dunkel, kantig, kalt: Ein Baustellengitterkäfig dient alternierend als Fußballplatz, Marktplatz, Baustelle und Gefängnis. Genial und den größten dramatischen Effekt zum packenden Text hinzufügend sind die Soundeffekte: Wann immer Samira den Zaun berührt, werden ihre Bewegungen in Geräusche umgewandelt. Das klingt meist bedrohlich, industriell, rauschend, am Ende ermöglicht das Setup der grandiosen Schauspielerin, am Zaun der „Festung“ die Europahmyne zu „zupfen“ – Eine plakative, sehr treffende Pointe. Einprägsam ist außerdem nicht nur der Kraftakt der Schauspielerin, sondern auch der Modus des retrospektiven Erzählens. Die einleitenden Worte „Ich hätte nie gedacht, dass meine Geschichte eine Geschichte ist“ deuten auf transkulturelle Ungleichheiten hin (welche Biographien sind mehr „wert“?) und markieren gleichzeitig die diegetische Metaebene. Wie die Raffungen und Kommentare, die die Erzählerin während ihres Monologes einfließen lässt: „Im zweiten Kapitel würde meine Mutter nur weinen.“ Vereinzelt gibt es auch Dialogansätze, und zwar in Form von Stimmen realer SchülerInnen, mit denen sich Staffelmayr im Vorfeld auseinandergesetzt hat und auf die Irmak antwortet.
Es ist nichts auszusetzen an diesem Stück; Vollends gelungen und ausgewogen inszeniert vermeidet es Plattitüden und kommt bisweilen humorvoll und poetisch daher. Was vor dem Hintergrund der Falltüren, die ein solches diskursives Schwergewicht offen lässt, eine Leistung ist. Herausragend ist der Text, nie langweilig seine einstündige Darbietung, relevant und spannend umgesetzt das Thema. Am Ende wird auch die Frage „Was bin ich denn jetzt?“ beantwortet. Traurig, dass die Realität das Theater in der Wirkmächtigkeit (immer?) überbietet: Am Tag der Premiere konnte zwar die Abschiebung von Eshan Batoori verhindert werden, mindestens sieben anderen vorher in Österreich weilenden Afghanen wurde mit dem vollzogenen Rücknahmeabkommen aber das Drama ihrer Flucht hämisch ins Vergebliche gesteigert.
Autor, Regie: Flo Staffelmayr; Sound: Julia Meinx; Bühne: Paola Uxa; Regieassistenz: Nina Alarcon; Bühnenbildassistenz: Alisa Mozigemba; Theaterpädagogik: Christina Rauchbauer; Produktionsleitung: Agnes Zenker; Licht: Flo Staffelmayr, Hannes Röbisch; Tontechnik: Andreas Nagl; Darstellerin: Alev Irmak