„Heimat.com“ (Guerilla Gorillas & Dschungel Wien) ///

Heimat.com – Asylwerber als Shootingstars des Sozialpornos? /// Tomáš Mikeska ///

Holger Schobers neuestes Werk heimat.com ist ein Stück trauriger Realität ohne Punkt und zu viele Kommas, welche die einzelnen Bilder trennen, nicht zu einer Einheit werden lassen und jegliche Nachwirkung nach dem letzten Applaus abschieben – wie einen unerwünschten Asylwerber.

In 90 Minuten wird auf der Bühne des Dschungel Wien die Geschichte eines 15jährigen Mädchens erzählt, das aus einem Versteck heraus, mittels persönlicher Videokommentare, die Welt an ihrem Leid und ihren Ängsten vor einer Abschiebung teilhaben lässt. Es ist die Geschichte eines Mädchens, das zum politischen und gesellschaftlichen Thema avanciert, bis sie sich im aufkommenden Desinteresse der breiten Masse wieder verflüchtigt und durch die Aktualität eines neuen tragischen Schicksals von der Bildfläche verdrängt wird.
Es ist die Geschichte eines „One-Hit-Wonders“ der öffentlich ausgetragenen Show der Asylpolitik Österreichs.

Zu offensichtlich gibt der Regisseur Kevin E. Osenau damit die reale Geschichte von Arigona Zogaj wieder und vermischt diese mit einem überspitzten Blick auf die damalige Berichterstattung und die darauf folgenden Reaktionen unserer Politik und Gesellschaft. Ein zu großes Thema, mit zu viel dramatischem Potenzial, das die Bühne des Dschungel Wien als eine Collage aus Gesang, Live Spiel und Video betritt. Zu offensichtlich auch die Kritik des Autors, doch woran? An der Blindheit unserer Gesellschaft? Der Sensationsgier der Medien? Der verzweifelt menschlichen katholischen Kirche? Der Zurschaustellung und Abstumpfung? Schwer erfassbar in der Fülle der Teile die sich nicht zusammenfügen möchten.
Zu amateurhaft wirkt die Inszenierung, wenn sich die Darsteller einen Rahmen reichen, als Symbol für die Bildfläche eines Fernsehers. Amüsant die assoziative Videocollage zu den kritischen bis sarkastischen Kommentaren der Darsteller zu den realen Ereignissen um Familie Zogaj. Amüsant aber nicht anonym, denn zu stark erinnert dieses Element an die „Sendung ohne Namen“ des öffentlich rechtlichen Rundfunks. Zu überzeichnet Rabea Wywichs Darstellung eines 15jährigen Mädchens. Zu karikaturistisch werden die anderen Rollen von Mareike Dagmar Dick und Oliver Vilzmann getragen, und zu oft macht sich in einem die Sehnsucht nach einem Höhepunkt, bereit, während die Inszenierung selbst keinen finden mag. Doch wo ist nun hier der Punkt? Vielleicht in dem geäußerten Begriff des Sozialpornos? Möglicherweise, dass die Inszenierung diesen Begriff aufwirft, daran Kritik übt, um dann selbst zu einem Sozialporno zu werden?

Der Nachteil davon: Wer von uns hat je einen Porno mit voller Aufmerksamkeit und in konstanter Erregung zu Ende verfolgt? So verhält es sich auch mit Geschehnissen des entlehnten Genres des Sozialpornos: Nie von erster bis zur letzten Minute dabei, zumindest nicht mit konstanter Erregung! Nur schade, dass der Wunsch nach einem Höhepunkt auch während der Inszenierung von heimat.com aufkam – und bis zur letzten Minute unbefriedigt blieb.

Premiere: 15.9.2011 – Dschungel WienGuerilla Gorillas

Autor: Holger Schober; Regie: Kevin E. Osenau; Ausstattung: Franziska Smolarek; DarstellerInnen: Mareike Dagmar Dick, Hans-Dieter Kreuzhof, Oliver Vilzmann, Rabea Wyrwich

Von paul

Ein Gedanke zu „Heimat.com – Asylwerber als Shootingstars des Sozialpornos?“
  1. nur zum wissen für den autor der kritik. Die begründung der jury für die verleihung des deutsch-niederländischen jugendtheaterpreises. so blöd kann das stück also nicht sein.

    Heimat.com

    von Holger Schober

    Es beruht das Stück „Heimat.com“ auf einer wahren Begebenheit. Auf vielen wahren Begebenheiten, den Flüchtlingsschicksalen nämlich, die sich hier und heute in unserem Land vollziehen. Als Verwaltungsakt gegenüber Menschen, die unter uns wohnen und mit uns aufgewachsen sind.

    Ein zeitnahes Stück, ein politisches Stück also, das Holger Schober vorlegt. So normal nun allerdings die bundesrepublikanische Abschiebepraxis uns vorgehalten wird, umso außergewöhnlicher demgegenüber die Handlung des Stücks, die sich daraus ergibt. Denn Amira F. gelingt es ihr eigenes Elend, ihr Opferdasein, via Internet und Fernsehen multimedial zu vermarkten.

    Außerdem – „Das Stück spielt auf der Homepage von Amira F.“ – wird mit dieser Regieanweisung eine formale Herausforderung an die Inszenierung vorgegeben. Sie jagt Leser, Schauspieler und Zuschauer wütend auf die Tour de Force der Amira F., in der einem der Atem stockt oder vor Entsetzen das Lachen im Halse stecken bleibt.

    Ein neuer erfindungsreicher Theateransatz, ein bewegendes Stück zeitgenössischer Literatur und ein politisches Lied, das wir hören müssen; ein Racheakt gegen die Perversion der medialen Unterhaltungsindustrie und eine starke Aufforderung angesichts dieses heimatlichen Wahnsinns Menschlichkeit zu bewahren.

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